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Rote Lappen
Marcie knallt einen Aktenordner auf meinen Schreibtisch und mustert mich dreist durch die Gläser ihrer Hornbrille. »Was ist denn mit dir los?«, fragt sie.
Marcie arbeitet als Sekretärin in unserer Abteilung der Arbeitsvermittlung EPT (Employment Partnership and Training – es ist tatsächlich die gleiche Abkürzung wie für den bekannten Schwangerschaftstest), aber in Wahrheit schmeißt sie den ganzen Laden. Sie hat erstaunlich viel Macht für eine fünfundzwanzigjährige Frau. Sie schläft mit Sean Zambuto, unserem Chef, was – das stimmt wirklich – sie zur Chefin und Zambuto zum Sexsklaven macht. Unsere geistig behinderten Schützlinge, die in der Büroumgebung oftmals verwirrt und ängstlich sind, lieben sie ausnahmslos. Und die Sozialarbeiter einschließlich meiner Wenigkeit kommen zehn Mal am Tag zu ihr gekrochen, um sich Anweisungen zu holen. Das berechtigt sie auch, alles über unsere Privatangelegenheiten zu wissen.
»Du siehst echt fertig aus«, sagt Marcie. »Dabei ist doch erst Dienstag.« Sie stopft sich eine dicke Strähne ihrer unbarmherzig gestutzten schwarzen Haare (dabei waren sie einst naturblond und wunderschön) hinters Ohr. Ihre Brille, die aussieht wie eines dieser Modelle mit angeklebter Nase und Schnauzer, verbirgt Augen, aus denen sie mich wissend anstarrt. Ich werde nie verstehen, woran ich mit ihr bin. Sie ist von der Natur mit einem Gesicht wie dem von Reese Witherspoon und einem Körper wie dem von Jessica Simpson ausgestattet worden, und doch versucht sie, ihr gutes Aussehen zu kaschieren, solange ich sie kenne.
»Er ist also noch nicht zurückgekommen?«, erkundigt sie sich.
Marcie darf mir solche Fragen stellen, weil sie meine Freundin ist. Mich stört nur, dass sie gleichzeitig auch die Freundin meiner Mutter ist. Die beiden telefonieren mindestens einmal pro Woche miteinander. Das ist meine eigene Schuld, habe ich sie doch einmal an einem einsamen Sonntagnachmittag zum Essen mit nach Hause genommen, als Teddy nicht mitkommen wollte. Meiner Mutter wäre es ganz egal gewesen, ob er dabei ist oder nicht. Sie und Marcie kamen sich beim Wühlen in den Vintage-Klamotten meiner Mutter und beim Lesen der aktuellsten Ausgabe des Star Magazine näher, und der Rest ergab sich von selbst.
»Er kauft ein Haus mit ihr«, sage ich.
»Was macht er?«
Sean Zambuto taucht plötzlich in der offenen Tür auf und betrachtet uns aus traurigen, tief sitzenden Augen. Er ist sechzehn Jahre älter als Marcie und war nie verheiratet. Seine jetzt schon hängenden Wangen lassen ihn aussehen wie Schlafmütz von den sieben Zwergen. Der Gedanke daran, dass die beiden das Bett teilen, ist verstörender als Marcies neue Brille. Dabei ist er ein netter Kerl, wie er gerade wieder unter Beweis stellt, indem er uns höflich zunickt. »Könnte ich dich kurz sprechen, Marcie, wegen der Akte Fallon?«, fragt er.
»In deinem Büro«, bellt Marcie. »Ich bin in einer Minute bei dir.«
Sean schenkt mir ein tragisches Lächeln, bevor er wie ein geprügelter Hund abzieht. Ich bin sicher, dass er genau mitbekommen hat, was mir widerfahren ist. Im Büro wird natürlich eifrig darüber getuschelt, als wäre ich der inoffizielle ungelöste Fall, das spannende Thema in der Mittagspause, der willkommene Grund, länger am Kopierer rumzulungern. Alle haben Mitleid mit mir, bis auf Marcie, die nur sauer zu sein scheint. Sie klopft mit dem Fuß auf den Boden wie ein Metronom. Sie mag Teddy nicht, sie konnte ihn noch nie leiden. Und Inga findet sie verabscheuenswert. Allein dafür muss man sie lieben.
»Vergiss dieses Arschgesicht«, befiehlt sie. »Der kommt nie wieder zurück.«
»Was heißt hier Arschgesicht?«, wiederhole ich. Meine Entrüstung ist nicht gespielt.
»Na gut. Dann halt diesen Versager. Entschuldige.«
»Dieser Versager ist mein Mann!«, entgegne ich, vielleicht etwas zu schrill.
Marcie schnaubt verächtlich. Mir fällt auf, dass ich das gleiche Gespräch mit ihr führe wie mit meiner Mutter. Nur der Schimpfname hat sich geändert. Teddy ist vom Potz zum Arschgesicht avanciert.
»Er ist noch nicht mal zwei Wochen weg«, sage ich. »Findest du nicht, dass mir ein paar Illusionen zustehen?«
Sie sieht mich unendlich mitfühlend an, als wäre ich eine alte Frau, die sich gerade die Bluse mit pürierten Karotten vollgekleckert hat. »Deine Ehe konntest du doch vom ersten Tag an in die Tonne treten«, verkündet sie. »Da helfen auch keine Illusionen.«
Ganz schön hart, diese Marcie.
»Du hörst dich an wie meine Mutter«, werfe ich ihr vor.
»Deine Mutter gefällt mir«, erwidert Marcie.
»Und mir gefällt dein Haarschnitt nicht«, entgegne ich, doch sie lacht nur, drückt mich an sich und hüllt uns beide in den teuren Duft ihres lächerlichen Pummelchen-Parfüms.
»Das war eine üble Sache für dich, Rosie«, sagt sie und tätschelt mir den Rücken. »Und wenn dein Mann kein Arschgesicht ist, dann ist Inga ganz sicher eins.«
Schrecklich. Jetzt kullern schon wieder die Tränen, obwohl ich nur ein einfaches Gespräch führe. Marcie bemerkt sie auch, obwohl ich mich bemühe, sie hastig wegzuwischen. Himmel, sie ist auch noch schuld daran, weil sie Inga erwähnt hat, die Frau, die mir geholfen hat, Teddys und mein Schlafzimmer einzurichten, die Freundin, die immer behauptete, ich sei so, wie ich bin, schön. Dreizehn Jahre lang waren wir befreundet, seit wir im College zusammen einen Kurs in Psychologie besucht haben. Wir haben alles miteinander durchgestanden, die schlechtesten Zeiten und die besten Diäten – nicht, dass sie es je nötig gehabt hätte, eine zu machen. Sie hat mir Zucchini-Champignon-Aufläufe gebacken und dafür Diätmargarine statt Butter verwendet, und ich habe ihr immer ehrlich gesagt, was ich über ihren jeweiligen Freund dachte. Ich war diejenige, die sie aufgeheitert hat, wenn sie einsam war oder selbst einmal sitzengelassen wurde.
Marcie klopft sachte auf den Aktenordner, den sie auf meinen Schreibtisch gelegt hat, und holt mich so zurück auf den Boden. »Eleanor Scudder«, sagt sie sanft. »Um halb neun kam ein Anruf von der Zahnarztpraxis in Mineola.« Sie schiebt die Brille auf ihrer perfekten Nase nach oben. »Wir unterhalten uns später weiter, ja? Und weißt du auch, warum?«
»Warum?«
»Weil ich dich mag, du Dussel.«
Aus Marcies Mund ist das ein Kompliment. Ihr schwarzer Nagellack glänzt, als sie mir die Hand tätschelt und geht. Ich brüte in meinem Kabuff vor mich hin, und der überteuerte doppelte Latte Macchiato auf dem Schreibtisch vor mir wird kalt. Woher will Marcie eigentlich wissen, dass meine Ehe vom ersten Tag an schlecht war? Ich kann mich an schöne Vormittage im Bett erinnern, zusammen mit meinem frischgebackenen Ehemann, an gewagte Liebesspiele am Strand (wir hatten Sand in jeder Hautfalte), daran, wie Teddys Gesicht aussah, als er meinen Brautschleier vor dem Altar zurückschlug. Wie hatte er ausgesehen? Nervös. Ängstlich. Als hoffte er, er könne mich glücklich machen. Oder er hatte gehofft, dass er nicht dabei war, einen Fehler zu begehen.
Ich versuche, auf und ab zu gehen, aber dafür ist wirklich kein Platz. Fünf Tage die Woche bin ich in diesem winzigen Büro in einem nichtssagenden Gebäude aus Ziegelstein gefangen, eingezwängt wie eine Wüstenrennmaus in einem billigen Plastikkäfig. Die Büros von EPT im ersten Stock haben so dünne Wände, dass man bei jedem falschen Anruf mithören kann, den Marcie entgegennehmen muss. Nein, höre ich sie mindestens einmal pro Tag sagen, hier ist nicht die Hotline für den Schwangerschaftstest. Wählen Sie die Achthunderter-Nummer auf der Verpackung, Kindchen. Sie ist überraschend sanftmütig zu diesen falsch verbundenen Anruferinnen, von denen die meisten, stelle ich mir vor, jung, verwirrt und zu Tode verängstigt sind – vielen unserer Schützlinge nicht unähnlich.
Ich nippe an dem kalten Kaffee und wappne mich innerlich für das Telefonat mit Eleanors Chef. Ein Anruf aus Dr. Sharpes Praxis kann nur eines bedeuten: Eleanor hat einen roten Lappen gesehen. Elanor ist mein Schützling mit Downsyndrom. Sie putzt seit fünf Monaten in dieser Arztpraxis in Mineola. Sie war ein wahrer Segen für alle Beteiligten, hauptsächlich, weil sie eine ungewöhnliche Liebe zu Staubsaugern hegt. Sobald das Gerät einmal eingeschaltet ist, fühlt sich Eleanor von dem Brummen und Vibrieren angeregt und schiebt das Gerät auf dem Teppichboden unermüdlich vor und zurück, vor und zurück. (Teddy ging es ähnlich mit den elektrischen Massagematten, die es in den Zimmern billiger Motels gab. Man kennt einen Mann eben erst dann wirklich, wenn man mal mit ihm in einem billigen Motel gewesen ist. In dieser Umgebung zeigt er seine wahre Natur.) Wie dem auch sei, die Zahnärzte haben mir gesagt, dass sie gar nicht gewusst haben, was sauber bedeutet, bevor Eleanor zu ihnen kam. So mussten wir nur den Punkt mit den roten Putzlappen klären. Eleanor fängt bei ihrem Anblick an zu weinen. Niemand weiß, woher das kommt, aber sobald man Eleanor ein rotes Tuch zum Staubwischen gibt, bricht sie in unkontrolliertes Schluchzen aus, das andauert, bis man sie vom Arbeitsplatz wegholt. Den Zahnärzten wurde nahegelegt, ihre Putzutensilien von Zeit zu Zeit durchzusehen, aber wer weiß, vielleicht ist irgendjemandem eine Panne unterlaufen.
Ich will gerade zum Telefon greifen, um in der Praxis anzurufen, als es klingelt. Ich wusste, dass Teddy anrufen würde. Ich wusste es.
»EPT. Roseanna Plow«, melde ich mich so professionell wie möglich. »Hier ist Ham. Mickey Hamilton vom SaveWay.« Mein Herz sinkt. Milton. Er hat wieder Babys geküsst. »Wie läuft es so bei Ihnen, Mr Hamilton?«, frage ich. »Bitte«, sagt er. »Mr Hamilton ist mein Vater.« »Mickey«, sage ich. »Ham«, korrigiert er mich. Aber Ham – Schinken! – kommt mir einfach nicht über die Lippen. »Tja, also«, sagt er nach einigen Sekunden des Schweigens,
»hier läuft alles bestens.« »Sehr schön!«, äußere ich leicht verwirrt. »Und Milton …« »Milton geht’s auch bestens.« »Gut!« »Ich, äh, habe mich etwas gefragt. Sind Sie eigentlich verheiratet?« »Wie bitte?« »Sind Sie verheiratet?« Ich bin schockiert. Diese Frage aus dem Mund eines Mannes, der eigentlich nie spricht. »Ja, na ja, kann man so sagen.« »Ich werde Sie nicht darum bitten, das genauer zu erklä
ren.« »Gut.« »Aber hätten Sie Lust, mal mit mir zum Essen zu gehen?« Ich starre aus dem kleinen Fenster meines Büros. Ein rotes Auto fährt vorbei, dann ein schwarzes. Eine kleine Spinne kriecht am Fenster hoch.
»Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?« – »Ja, durchaus«, sagt er.
Die Spinne baumelt sachte an einem unsichtbaren Faden hin und her. Inga, fährt es mir plötzlich durch den Kopf. Blöde, miese Inga. Was für eine Freundin ist sie?
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein, bin ich nicht.«
Ich warte.
»Geschieden«, sagt er.
Ich sage es nicht, aber ich bin überzeugt, dass er die Verantwortung für die Scheidung trägt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Scheidung nicht die Schuld des Mannes ist. Und wer will mit so einem Mann ausgehen?
»Ich rufe Sie zurück«, sage ich zu Mickey Hamilton.
»Bitte«, sagt er, »tun Sie das.«
Ich lege auf, und einige Minuten lang kann ich nicht wieder abheben. Ich wusele in meinem engen Büro herum, hänge meinen Blazer von der Stuhllehne an den Wandhaken, verteile ein paar Akten auf dem Regal. Was könnte ich gesagt oder getan haben, das einen ehemaligen Metzger dazu veranlasst haben mag, mit mir ausgehen zu wollen? Hat meine Mutter ihn auf die Idee gebracht? Zuzutrauen wäre es ihr. Aber wie sollte das gut gehen? Wenn ich ihm nach ein paar Long Island Iced Teas und einem protzigen Dinner in einem Steakhaus womöglich sagen würde, dass ich mir nicht vorstellen kann, ihn wiederzusehen, ihn zu küssen oder mit ihm auf seinem Wasserbett in Form eines Hamburgers zu kuscheln, würde Milton dann etwa gefeuert? Schikaniert? Kritisiert? Ich seufze und schnippe eine tote Fliege vom Aktendeckel. Dabei wäre es schön, Teddy eifersüchtig zu machen.
Ich greife zum Telefon und rufe in der Zahnarztpraxis an. Dr. Sharpes Sprechstundenhilfe ist völlig aufgelöst angesichts des Zustandes, in dem sich die Praxis befindet. Überall Eimer und Wischmops. Der Staubsauger lief noch, als sie morgens kam.
»Es war meine Jacke«, gesteht die Sprechstundenhilfe mir. »Sie ist rot. Ich hab sie im Büro gelassen, als ich nach Hause gegangen bin. Sie muss heruntergefallen sein. Alles ist ein einziges Chaos!«
»Und Eleanor?«
»Sie war hier, als ich kam.«
»War sie etwa die ganze Nacht da?«
»Sie hatte ja auch eine Menge damit zu tun, alles kurz und klein zu schlagen.«
»Hat denn die Betreuerin ihrer Wohngruppe nicht nach ihr gesehen? Hat niemand versucht, sie zu finden?«
»Anscheinend nicht. Heute morgen wollen sie jemanden herschicken. Eleanor lag schlafend in der Toilette, als ich hier ankam.«
Noch während ich auflege, ziehe ich meinen Blazer vom Haken. In Gedanken feuere ich Pfeile mitten ins Herz der Nachtaufsicht in Eleanors betreuter Wohngruppe. Wie konnte man denn übersehen, dass jemand in der eigenen Wohnung fehlte? Ich will gerade die Tür zuziehen, als das Telefon erneut klingelt, und fast hätte ich nicht abgenommen. Aber beim fünften Klingeln gebe ich nach.
»Ich hab schon den ganzen Morgen versucht, dich zu erreichen«, sagt meine Mutter.
»Ich verdiene meinen Lebensunterhalt.«
»Du solltest diese Anklopf-Funktion haben, die die Telefongesellschaften heutzutage anbieten.«
»Die was?«
»Na, du weißt schon, wenn du mit jemandem telefonierst, und dann piept es in der Leitung …«
»Glaub mir, das ist das Letzte, was ich will.«
»Hmm«, bemerkt meine Mutter. »Du hast ja eine ganz schöne Laune heute Morgen.«
»Ich war gerade auf dem Weg zur Tür, Ma. Ein Notfall in Mineola.«
»Ist Teddy zurück?«
Als ich nicht antworte, sagt sie: »Dann fahr nach Mineola. Aber ruf mich heute Abend an.«
Als ich auf der verstopften Autobahn festsitze, merke ich, wie aufgewühlt und verärgert ich bin. Meine Mutter weiß nur zu gut, dass Teddy nicht zurück ist. Und lustig ist das auch nicht mehr. Wenn er heute nicht zurückkommt, sind es zehn Tage, seit er weg ist. Zehn. Das ist zweistellig. Nah an der Zweiwochengrenze. Gefährlich nah an der Dreiwochen-grenze, nach der er ganz offiziell zum Arschgesicht wird, sogar nach meinen Maßstäben.
Ich steige auf die Bremse und fluche leise. Die gute Eleanor mit ihrem Halbmondlächeln. Wie das wohl ist, eine ganze Nacht in einer Zahnarztpraxis zu verbringen? Die arme Mrs Scudder, die sich zu der Entscheidung durchringen musste, ihrer Tochter zu gestatten, das schützende Heim ihrer Kindheit zu verlassen, und die nichts anderes wollte als jede andere Mutter auch (zumindest meine Mutter, wie ich mir widerwillig eingestehen muss), dass nämlich die eigene Tochter freudig die nächste Hürde im Leben nehmen möge (in meinem Fall: die Scheidung, in Eleanors Fall: die Unabhängigkeit). Hier haben wir Eleanors Chance, mit anderen zu leben, ihre eigenen Mahlzeiten zu kochen und ihre eigenen Socken zu kaufen. Und was passiert, während sie meiner Obhut unterstellt ist? Sie wird irgendwo vergessen, wie ein Fahrrad auf dem Bürgersteig.
In der Zahnarztpraxis sind überall die Spuren der letzten Nacht zu sehen. Ein Rollo liegt zerbrochen auf dem Boden, und die einzelnen Lamellen breiten sich aus wie ein riesiger Fächer. Auf dem malvenfarbenen Teppich ist ein dunkler Fleck von der Größe Texas’ zu sehen. Daneben liegt eine leere Flasche mit Flüssigseife. Ein einzelner Patient auf einem Chromstuhl blättert nervös in einer Wohnzeitschrift und tut krampfhaft so, als wäre alles bestens. Die Sprechstundenhilfe führt mich zur Tür der Toilette und klopft.
»Eleanor?«, ruft sie. Sie versucht, die Tür zu öffnen. Der Messingknopf lässt sich drehen. »Ich glaube, Dr. Sharpe möchte danach noch mit Ihnen sprechen«, flüstert sie, bevor sie mit einem strengen Blick auf mich den Rückzug antritt.
Ich mache die Toilettentür weit auf. Unter einem Standwaschbecken mit vornehm vergoldeten Armaturen sind Eleanors nackte Fußsohlen zu sehen. Sie sitzt mit dem Rücken an der Wand in ihrem weißen Putzfrauenkittel da. Ihre verknautschten Socken und die Schlappen bilden einen Bogen um sie, wie bei einem kleinen Garten.
»Eleanor«, sage ich.
Ihr Blick ist so leer wie der einer Gummipuppe. Ich knie neben ihr nieder und ergreife ihre Hand. »He, meine Süße«, flüstere ich. Sie dreht den Kopf weg, und ich frage mich, ob ich das Halbmondlächeln jemals wieder sehen werde. »Deine Betreuerin kommt gleich. Du kannst jetzt nach Hause.«
»Ich warte hier«, sagt sie. Ihr Haar steht ab wie die Stacheln eines Stachelschweins, ein Look, dem Marcie vermutlich nacheifern würde, wenn sie ihn sähe.
»Eleanor«, sage ich erneut und drücke ihre kleine Hand mit den dicken Fingern. Sie wirft die Arme um meinen Hals und erdrückt mich beinahe.
»Ist ja gut«, sage ich, obwohl gar nichts gut ist. Sie zittert wie jemand, der ein Erdbeben überlebt hat. »Ist ja gut«, wiederhole ich. Nach einer Weile lässt sie sich von mir aufhelfen. Hand in Hand gehen wir an dem Mann mit der Wohnzeitschrift vorbei. Er sieht beunruhigt aus, wie jemand, den eine menschliche Geste schockiert, die er noch nicht in einer Talkshow gesehen hat. Das ist doch nur eine barfüßige Frau mit Downsyndrom, möchte ich ihm sagen, Hand in Hand mit einer leicht übergewichtigen Sozialarbeiterin.
Nachdem ich Eleanor in eines der hinteren Büros bugsiert habe, wo sie auf ihre Betreuerin warten soll, kehre ich zur Anmeldung zurück, um diese dort abzufangen. Ich hasse sie bereits jetzt, diese unbekannte Schlampe, die Eleanor im Stich gelassen hat, und ich sehne mich danach, ihr die Meinung zu geigen. Endlich kommt eine blasse Blondine mit randloser Brille zur Tür herein. Mit wichtiger Miene und der Figur eines Models für Bademoden kommt sie auf mich zugeeilt, als wisse sie genau, dass ihr mit diesem Körper keiner etwas anhaben kann. Sie mustert mich, kommt dann geschmeidig heran und drückt mir fest die Hand.
»Miss Plow? Ich bin Chelsea Hannigan von der Initiative Cooperative Living.« Ihre Stimmer erinnert mich an Ingas, schrill und spitz. »Wo ist Eleanor?«, fragt sie.
»Wo sie jetzt ist? Oder wo sie heute Nacht war?«
Ihr Blick umwölkt sich, als flöge ein Schwarm Fruchtfliegen daran vorbei. Wie ich sie dafür hasse, dass ihr die Brille so gut steht. Als sie den Mund aufmacht, um etwas zu erwidern, blickt der Herr von seiner Zeitschrift auf.
»Miss Plow«, sagt sie, »ich war letzte Nacht nicht für Eleanor zuständig …«
»Darum geht es gar nicht, Miss Hannigan«, falle ich ihr ins Wort. »Sondern darum, dass sie allein war. Im Stich gelassen. Wissen Sie eigentlich, wie das ist, zu glauben, dass jemand nach einem sieht, nur um dann festzustellen, dass er es nicht tut? Dass man Sie total vergessen hat? Dass Sie auf sich allein gestellt sind?«
Chelsea Hannigan starrt mich an. Anscheinend habe ich gebrüllt. Sie hat mir gerade gesagt, dass sie gar nicht zuständig war letzte Nacht. Selbst dem Mann auf dem Chromstuhl kommen meine Worte ein bisschen melodramatisch vor. Er blickt vorsichtig auf und schaut dann schnell wieder nach unten in seine Zeitschrift. Vermutlich erkennt keiner von den beiden, dass ich aus Erfahrung spreche, dass ich gerade jetzt diese Erfahrung mache, im Stich gelassen zu werden, dass ich der Inbegriff des Im-Stich-gelassen-Werdens bin und dass ich nicht die geringste Lust habe, den Schwarzen Peter wegen Eleanors schlechter Behandlung zugeschoben zu bekommen. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Gerade will ich Chelsea Hannigan noch weiter runterputzen, als mein Handy beginnt, die Titelmelodie von Die Stunde des Siegers zu spielen.
Teddy. Was hat er sich nur für einen bescheuerten Klingelton ausgesucht. Ein Mann, der sich einhundert Paar Joggingschuhe kauft und dann mit dem Auto zur nächsten Straßenecke fährt, um eine Zeitung zu holen. Und trotzdem. Meine Hand gleitet wie die eines Diebes in meine Tasche. »Eine Sekunde«, sage ich zu Chelsea Hannigan, und sie blickt erleichtert drein, als ich aus dem Anmeldebereich in die Toilette trete, die Eleanor gerade freigemacht hat. Ich schließe die Tür hinter mir ab und setze mich auf die Toilettenbrille.
»Roseanna«, sagt Teddy in steifem, kaltem und anklagendem Tonfall. »Ich möchte mir verbitten, dass du ständig bei mir und Inga anrufst.«
Das bringt mich auf die Palme. »Und wie soll ich dich dann bitte schön erreichen?«, fauche ich.
»Wozu willst du mich erreichen? Ich versuche hier nur, für Recht und Ordnung zu sorgen, und schätze es nicht …«
»Wo genau?«, unterbreche ich ihn und streiche meinen Rock glatt.
»Wie bitte?«
»Wo genau versuchst du, für Recht und Ordnung zu sorgen? Im Haus meiner besten Freundin? In ihrem Bett? Weil ich dich nämlich todsicher SEIT MEHR ALS EINER WOCHE NICHT ZU HAUSE GESEHEN HABE!«
Mir fällt auf, dass ich das Schreien von eben noch übertroffen habe. Jetzt kreische ich. Ich sitze kreischend auf einer Klobrille. Gott sei Dank sitzt meine Mutter nicht nebenan und hört zu. Wäre Milton hier, würde er mich nicht mehr schön finden. Er würde mich für verrückt halten. Denk daran, wie wir am Arbeitsplatz miteinander sprechen. Aber Teddy hat den Platz an meiner Seite verlassen, und das ertrage ich nicht länger. Er soll wissen, dass es mies ist, was er mir angetan hat. Er soll wissen, dass er ein Arschgesicht ist, wie Marcie es formuliert hat. Ich muss herausfinden, warum er fort ist und ob irgendwo in den Tiefen seines kleinen Gehirns noch ein Restchen Liebe für mich schlummert. Und da kommt mir plötzlich eine hervorragende Idee.
»Teddy«, sage ich in möglichst bedrohlichem Ton. »Es wäre besser, wenn du diesen Sonntag vorbeikommst und deinen blöden Fernseher abholst. Ich will ihn nicht, und ich habe auch nicht vor, ihn zu bezahlen.«
Mir kommt es vor, als hörte ich ein leises Keuchen am anderen Ende der Leitung. Ermutigt fahre ich fort: »Er ist erst drei Wochen alt, und ich habe die Rechnung. Wenn du nicht kommst und ihn abholst, gebe ich ihn Montag höchstpersönlich zurück.«
»Was machst du?«
Teddy klingt fassungslos. Endlich habe ich ihn da getroffen, wo es wehtut. Bei seinem Flachbildschirm. Seine Frau zu verlassen, ist das eine, aber auf den Fernseher zu verzichten ist etwas ganz anderes.
»Du hast ganz richtig gehört«, sage ich. »Du kommst am Sonntag, und wehe, du bringst dieses Weibsstück mit.«
»Aber Rosie …«
»Komm nach sieben, wenn ich wieder zu Hause bin. Ich habe nicht vor, einen ganzen Tag damit zu verschwenden, auf dich zu warten.«
Ich lege auf.
Rosie. Er hat mich Rosie genannt. Das ist Beweis genug dafür, dass ich das Richtige mache, beschließe ich. Ich werde ihm noch eine Chance geben. Um des heiligen Sakraments der Ehe willen. Oder so ähnlich.
Als ich ins Wartezimmer zurückkomme, scheinen alle verschwunden zu sein. Der Mann mit der Zeitschrift ist fort. Chelsea Hannigan hat mit Eleanor die Flucht angetreten.
»Die Betreuerin hat Miss Scudder mitgenommen«, erklärt mir Dr. Sharpes Sprechstundenhilfe, als ich zu ihr komme. »Und Dr. Sharpe ist auch weg.«
Sie weicht meinem Blick aus. Fast, als ob sie Angst vor mir hätte.
»Nun gut«, sage ich und versuche, sehr britisch zu klingen. Ich weiß auch nicht, warum ich der Meinung bin, dass das helfen könnte. Als ich mich zum Gehen wende, versuche ich so würdevoll wie möglich auszusehen. Es wird hier später noch eine Menge zu erledigen geben – die Reinigung muss bezahlt, die Rollos repariert werden, dann gilt es, sich um die Versicherung zu kümmern und um Eleanors Beurteilung. Aber in diesem Moment ist mir das alles zu viel. Nicht jetzt, wo Teddy vielleicht doch wieder nach Hause zurückkommt und der Fortbestand unserer Ehe in der Waagschale liegt, glänzend im Licht eines Flachbildfernsehers.